Abenteuer Freiheit by Strenger Carlo

Autor:Strenger, Carlo [Strenger, Carlo]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-12-13T23:00:00+00:00

Superwomen und Normopathie

Es ist verführerisch zu denken, die Themen des Modernismus – Konflikt, Tragik, Leiblichkeit, Geschlechterdifferenzen und die Schwierigkeit, unter den Bedingungen der urbanen Hochgeschwindigkeitszivilisation zu leben – seien eine Sache der Vergangenheit. Sind die Werke Baudelaires, Courbets oder Schieles in der heutigen Zeit wirklich noch relevant? Haben wir die Verklemmtheit des viktorianischen Bürgertums nicht längst überwunden? Wir können in Museen Ausstellungen des verstorbenen Robert Mapplethorpe sehen, der (vor allem männliche) Geschlechtsteile, Sexualakte und sadomasochistische Szenen in allen möglichen Variationen fotografiert hat; selbst in Mainstream-Filmen ist es heute mehr oder weniger selbstverständlich, dass man darin nackte Schauspielerinnen und Schauspieler sieht. Auch Neosexualitäten, die früher einmal »Perversionen« genannt wurden, sind mittlerweile akzeptiert. Man könnte insofern meinen, die Spätmoderne hätte mit unserer Körperlichkeit ihren Frieden geschlossen.

Doch das ist eine optische Täuschung, nichts könnte der Realität weniger entsprechen: Die Körperlichkeit wird nicht in erster Linie als Quelle des Glücks erlebt, sondern als ein Stück Natur, das durch ständiges Training und Management, durch Diäten und Sport, durch Psychopharmaka und plastische Chirurgie in Schach gehalten, verbessert und kontrolliert werden muss. Die Angst vor der Leiblichkeit ist also keinesfalls verschwunden, möglicherweise ist sogar das genaue Gegenteil der Fall. So betont etwa die amerikanische Kulturhistorikerin Camille Paglia, wir Spätmodernen hätten weder mit der Natur noch mit dem Körper unseren Frieden gemacht.40 Im öffentlichen Raum sind Werbebilder allgegenwärtig, auf denen anorektische Frauen und übermäßig muskulöse Männer zu sehen sind, deren Körper mithilfe von Photoshop zusätzlich optimiert wurden. Das Resultat kann man in einem beliebigen Fitnessstudio beobachten, wo obsessiv gestrampelt, gesteppt oder gerudert wird.

Ein weiterer Aspekt der ungeliebten Leiblichkeit ist der Alterungsprozess. Die Menschheit hat noch nie Gefallen gefunden am Altern, wie all die Mythen von Jungbrunnen usw. belegen, die bereits seit Jahrtausenden kursieren. Heute arbeitet jedoch eine ganze Industrie daran, diese Wunschvorstellung in ein wissenschaftlich begründetes Riesenbusiness zu verwandeln. Hochintelligente Menschen wie der Erfinder und Unternehmer Ray Kurzweil verkünden das neue Evangelium der technologisch herbeigeführten Unsterblichkeit: Schon in wenigen Jahrzehnten würden wir in der Lage sein, unsere Körper mithilfe von Nanotechnologie, Gentechnik und biochemischen Innovationen dauerhaft jung zu halten oder gegebenenfalls zu verjüngen.41 Kurzweil mag ein Extremfall sein, doch die westliche Kultur tut alles, um das Altern und die Gebrechlichkeit aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Das Unästhetische wird in Altersheimen und Spitälern versteckt.42

Auch die Geschlechterrollen, die zwar glücklicherweise nicht mehr so rigide sind wie im Wien oder London des 19. Jahrhunderts, bleiben ein ständiger Quell der Angst, man werde den hochkomplexen Anforderungen der »richtigen« und »gesunden« Weiblichkeit und Männlichkeit nicht gerecht. Es ist sicher richtig, dass die neurotischen Krankheitsbilder des Fin de Siècle, vor allem die Hysterie, in spätmodernen Gesellschaften nicht mehr zu finden sind; das Leiden an sozialen und kulturellen Erwartungen ist allerdings nicht verschwunden, sondern hat lediglich andere Formen angenommen. Wo Frauen, aber auch Männer einst in strikte Rollen eingesperrt waren und sich vor ihrer eigenen Sexualität fürchteten, leiden wir heute oft unter komplett unrealistischen Idealen von Männlichkeit, Weiblichkeit und harmonischer Partnerschaft sowie unter der Allgegenwart visueller Darstellungen spektakulären Erfolgs. Vor allem in Großstädten prägt

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